Short Story

Acht Beine auf der Flucht

Michi ist eine coole Vogelspinne. Doch es gibt Menschen, die mögen den Michi überhaupt nicht: Heike zum Beispiel.

Meistens tat sie gar nichts. Hockte regungslos in ihrem Unterschlupf und schlief. Lars versuchte, sie zu ignorieren, wenn er auf dem Teppich hockte und seine Hausaufgaben machte.

Allein sein Vater kümmerte sich um das Tier, gab ihr Heuschrecken zu fressen, wechselte das Wasser und machte das Terrarium sorgfältig sauber. Roland Vogelmann besaß die Vogelspinne seit einem Monat, seitdem wohnte sie in Lars’ kleinem Kinderzimmer.

«Es geht nicht anders», meinte Roland.

Es treten auf: Michi, die Vogelspinne (Acanthoscurria geniculata); Familie Vogelmann mit Vater Roland und Mutter Sandra sowie den beiden Kindern Lars und Natascha; Jens «Knöchel» Koslowski (1. Vorsitzender der Kolonie Waldliebe) und seine zweite Ehefrau Heike Koslowski (Arachnophobikerin).

Die Mietwohnung war winzig und Sandra Vogelmann duldete keine Spinnen im Schlafzimmer – und auch nicht in der Küche, im Wohnzimmer, im Bad oder im Flur. Es gab zwar noch das Zimmer von Natascha, aber das Mädchen hatte einer Amsel mit der Bastelschere den Schnabel abgeschnitten. Roland fand dieses Verhalten «grenzwertig» und befand das Zimmer seines Sohnes als sichersten Hafen für seine Spinne. Lars Vogelmann war harmlos und zart, ruhig und nachdenklich. Stundenlang lag er auf dem Teppich und starrte an die Decke. Und die Spinne tat weiterhin gar nichts.

Mann kauft Spinne

«Vogelspinnen sind total pflegeleicht, die brauchen nur wenig Platz», hatte Jens Dümpel erklärt. Der Spinnenzüchter hatte Roland einen guten Preis gemacht: 15 Euro für eine junge Weißknievogelspinne. Auch das nötige Zubehör war ein Schnäppchen, freute sich Roland, bei dem das Geld notorisch knapp war.

Doch die Reaktionen auf seinen impulsiven Spinnenkauf fielen negativ aus: Sandra Vogelmann schrie ihren Mann an, nannte ihn einen «Spinner» – haha – und verlangte die sofortige Rückgabe der Vogelspinne. Das sei aber nicht möglich, rief Roland, gekauft sei gekauft. Natascha kreischte, als sie das Tier zum ersten Mal sah und nannte ihren Vater «geisteskrank». Von ihrer Mutter wollte sie wissen, wo «dieser große Hammer» sei, aber das wusste sie nicht. Auch Lars war grundsätzlich gegen die Spinne, denn er fand, dass Vogelspinnen nichts in Deutschland zu suchen hätten. Dennoch zeigte er sich einigermaßen interessiert an dem neuen Bewohner, sodass Roland kein schlechtes Gewissen hatte, das Terrarium aus zweiter Hand im Kinderzimmer seines Sohnes aufzubauen. Lars wollte noch einige Details wissen, die Roland aber nicht wusste.

«Ist halt ’ne coole Spinne», meinte er schulterzuckend und warf den flauschigen Achtbeiner ins Terrarium.

Spinne im Schrebergarten

An den Wochenenden ging es in den Schrebergarten. Manchmal nahm Roland nicht nur seine Kinder mit, sondern auch die Spinne.

«Heute kommt Michi mit», sagte er dann und packte die Spinne in einen löchrigen Schuhkarton. Purer Stress für Michi, aber egal. Roland schnappte sich das Tier mit der bloßen Hand und machte «Schh, schhh, schh». Sie fuhren mit dem Opel zur Kolonie. Die Spinne verharrte im Schuhkarton auf dem Schoß von Roland; er rauchte nebenbei und fuhr zu schnell. Lars schaute träumend aus dem Fenster, während seine Schwester leise weinte.

Neulich hatte Roland Vogelmann ziemlichen Ärger bekommen. Er sollte unbedingt das Unkraut zupfen (abbrennen), das zwischen den Kieselsteinen tapfer wuchs und den Gesamteindruck der Kolonie ruinierte. Das zumindest fand Herr Koslowski, der sogleich mit einer Abmahnung gedroht hatte, sollte das Unkraut nicht binnen 14 Tagen entfernt werden.

Andreas Koslowski war der 1. Vorsitzende vom Verein Waldliebe, alle nannten ihn «Knöchel», wegen einer Sportverletzung. Die 2. Vorsitzende hieß Petra Schnapper, genannt «Körnchen», weil sie nicht viel vertrug. Roland war eine Weile Kassenwart gewesen, aber das hatte ihn alles überfordert. Nun sollte er sich wenigstens um das Unkraut auf den Kieswegen kümmern.

Ansonsten bewirtschaftete Familie Vogelmann die Parzelle 23 – Rolands Lieblingszahl. Lars spielte bei den Nachbarn, während Natascha sich hinter dem Schuppen versteckt hielt – es war ihr Lieblingsort, wo sie ungestört ihre Sachen machen konnte. Der Schuhkarton stand auf dem Esstisch, der Spinne muss dort ziemlich kalt gewesen sein.

Sandra bereitete einen Gurkensalat zu, während Roland versuchte, den Grill in Gang zu bringen. Zwischendurch schaute Knöchel vorbei.

«Moin!», rief er.

Roland drehte sich um, lächelte sozusagen und erwiderte widerwillig den Gruß.

«Das Unkraut, ne? Denkste dran?»

«Ja, aber natürlich, mache ich noch», behauptete Roland. Das Gestrüpp soll seinetwegen in den Himmel wachsen.

Später kam Manu vorbei, eine enge Freundin von Sandra. Sie setzte sich an den großen Esstisch, stöhnte und zündete sich eine Zigarette an. Pustete den Qualm in die Luft.

«Was ist in dem Karton?», fragte sie.

«Da ist Michi drin», erklärte Jörg.

«Ne, da ist mal gar nix drin», sagte Manu und legte den Deckel zurück auf den leeren Schuhkarton.

Entkommen

So kam es, dass eine Vogelspinne in der Kolonie Waldliebe ihr Unwesen trieb. Das sprach sich schnell herum, weil die Kinder die heikle Information nicht für sich behalten konnten und es jedem erzählten, der es lieber nicht wissen wollte.

Schließlich erfuhr auch Knöchel von der entlaufenen Spinne, und bei ihm schrillten sofort die Alarmglocken: Seine Frau Heike war die größte Arachnophobikerin am Platz. Regelmäßig schreckte sie aus grotesken Albträumen auf, die von Achtbeinern handelten. Beispiel: Sie träumte, dass ihr Mann und sie einen herrlichen Urlaubstag am Strand verbringen. Doch dann tauchen im Traum einige Männer auf, die sich einen Spaß daraus machen, die anwesenden Touristen mit Vogelspinnen und Huntsmanspinnen zu bewerfen und sie damit zu jagen – da sind auch Spinnen mit leuchtenden Augen dabei, die sie ausfahren können.

«Es hat sich so echt angefühlt!», wimmerte Heike, als sie hellwach im Ehebett saß und sich des beruhigenden Umstandes vergewisserte, nicht am Ballermann zu sein, sondern im heimischen Schlafzimmer, in dem es wahrscheinlich keine größeren Spinnen geben sollte – und auch keine durchtrainierten Männer. Da war nur Knöchel, der genervt stöhnte und sich schnarchend zu Seite drehte. Heike notierte den Traum für ihren Therapeuten auf einem Notizblock und lag den Rest der Nacht wach.

Das darf sie nie erfahren, dachte Knöchel – doch es dauerte nicht lange, bis Heike es doch erfuhr: Eine Vogelspinne sei in der Kolonie unterwegs, und niemand wisse, wo genau, auf welcher Parzelle. Der Kammerjäger erarbeite ein Konzept, doch Vogelspinnen seien gut darin, sich zu verstecken.

Roland Vogelmann wusste, dass er sein scheues Haustier nicht zu rufen brauchte: Die Spinne würde ohnehin nicht hören, sie hatte nämlich keine Ohren – zumindest hatte Roland nie welche gesehen.

Der 1. Vorsitzende stand am Gartentor und schimpfte ungehalten. Das würde zwei Abmahnungen geben: «Wegen dem Unkraut und wegen der Spinne, darauf kannste dich gefasst machen!»

Die Spinne blieb verschwunden. Heike schlief schlecht, sie litt unter fiesen Albträumen. Bis zu 30 Jahre wurden die Biester alt, hatte sie im Internet gelesen.

Lars hingegen schlief wesentlich besser, seit er sein Zimmer wieder für sich allein hatte.

Epilog

Eine Woche nach dem Verschwinden von Michi fand Roland seine Spinne beim Fegen: Sie lag hinterm Schuppen. Jemand hatte ihr alle Beine abgeschnitten – das mutmaßliche Tatwerkzeug lag noch auf einem Ziegelstein. Auf der pinken Bastelschere war ein schmaler Aufkleber angebracht, auf dem der Name «Natascha» stand. Die Besitzerin der Schere gestand im elterlichen Verhör ihre Tat.

«Ich habe das für Lars getan, er wollte das so», erklärte sie und bat um ihre Bastelschere.

Roland verzichtete auf eine Anzeige wegen Tierquälerei, außerdem auf den Erwerb einer neuen Spinne. Das Terrarium schenkte er einem Nachbarn, der es für seine Babyschlangen gebrauchen konnte.

Dass die Weißknievogelspinne tot war, sollte Heike aber noch nicht erfahren, beschloss Roland.