Short Story

Beruf: Hellseher

Roland Riemann nennt sich «Sauron der Seher» und schaut für seine Klienten in die Zukunft. Dort lauert der Tod: überfahren vom Linienbus.

Der Hellseher hieß Roland Riemann, er nannte sich aber «Sauron, der Seher». Seine Klienten empfing er montags bis mittwochs in seiner Einzimmerwohnung unterm Dach; donnerstags und freitags musste er sich um seine senile Mutter kümmern. (An den anderen Tagen übernahm das sein Zwillingsbruder Ronald Riemann.) Die Mutter der Riemann-Brüder musste gründlich gewaschen und gewachst werden, außerdem verlangte sie, dass die «Sohnemänner» ihr den Wirtschaftsteil vollständig vorlasen.

«Aber bitte klar, deutlich und langsam!»

Roland (der Seher) hatte allerdings hartnäckige Schwierigkeiten mit der ordentlichen Aussprache. Seit seiner Kindheit neigte er dazu, selbst die einfachsten Wörter falsch zu betonen und grob zu vernuscheln. In seinem Beruf als Hellseher war sein sprachlicher Makel jedoch von Vorteil: Seine Vorhersagen murmelte er ebenfalls undeutlich in die Ohren seiner Klienten, die auch nur dreimal darum baten, das Gesagte zu wiederholen, ehe sie leicht genervt aufgaben und das Gemurmel schlicht hinnahmen. Sie interpretierten einfach ihre eigenen Visionen in die Worte des Sehers. Da der nicht so teuer war, war das schon in Ordnung.

Nur einmal hatte ihn ein garstiger Greis vor Gericht gezerrt: Magnus M. Schleier war mit den vagen Prophezeiungen des angeblichen Sehers dermaßen unzufrieden, dass er sich einen Anwalt nahm und einen Prozess anstrengte. Gaukelei lautete der Vorwurf gegen Sauron – was er ziemlich sensationell fand. Sein großes Vorbild musste sich nämlich wegen genau dieses Vorwurfs vor Gericht verantworten: Die Hellseherin Claire Reichart wurde 1926 zu einer Geldstrafe in Höhe von 100 Mark verurteilt. Sie hatte mit 17 Jahren die Gabe der Hellseherei entwickelt, unter der sie jedoch seelisch zu leiden hatte – genau wie Sauron, der Seher. Er hatte in der «Geisterjagd Heute» von Reichart gelesen und das abgedruckte Foto ausgeschnitten, um es über sein Sofa an die Tapete zu kleben.

Für seinen eigenen Prozess hatte Sauron sich ein albernes Kostüm besorgt, um im Gerichtssaal aufzufallen; er hoffte auf einen großen Presserummel, doch der blieb aus. Der Richter hatte keinerlei Verständnis für den Angeklagten und seine Verkleidung. Der vermeintliche Seher sehe wie ein «lächerlicher Kindergartenzauberer» aus, schimpfte er genervt. Roland Riemann wurde zu einer kleinen Geldstrafe verurteilt, die seine Mutter widerwillig bezahlte.


Saurons treueste Klientin hieß Martina Krause, 52 Jahre alt, stets ordentlich frisiert und unscheinbar gekleidet. Seit ihrer späten Kindheit hatte Martina eine irrationale Angst, von einem Linienbus überfahren zu werden – ein Bus der Linie 121 sollte es sein, der sie eines Tages ins Jenseits befördern würde, so zumindest ihre düstere Vision. Inzwischen kam sie jede Woche zu Sauron, den sie erstaunlich ernst nahm, und fragte ihn wie immer ganz zum Schluss: «Wie sieht’s aus – wird mich der Bus erwischen?»

Es war mitten im Hochsommer, als der Seher plötzlich sagte: «Ja!»

Martina, die halbtags als Magnet arbeitete, hatte aus rechtlichen Gründen keinen Führerschein und war deshalb ausgerechnet auf den Bus angewiesen. Mit ihrem als körperliche Behinderung anerkannten Klumpfuß war sie zu langsam, weshalb sie seit ihrer Kindheit eine verbilligte Monatskarte für den ÖPNV besaß. Immerhin brachte sie der 121er bis vor die Haustür, und sie kannte alle Fahrer beim Namen: Dimitri (der Schöne), Sandra (die Stille), Gerald (der Schleicher) und Ingmar (der Stinker). Martina und der Bus – das war eine leidenschaftliche Hassliebe. Am liebsten saß sie ganz vorne, direkt hinter dem Fahrer. (Nur wenn Ingmar fuhr, saß sie weiter hinten.)

An diesem heißen Mittwoch war Roland mies gelaunt. Es war stickig und muffig bei ihm, er hatte schlecht geschlafen und schlecht geträumt und schlecht geschissen. Auch seiner Mutter ging es dreckig und er ahnte, dass der nächste Tag anstrengend werden würde. Wenn er bei ihr saß und ihr vorlas, und seine Mutter nur über Ausländer schimpfte und sich die Stunden klebrig in die Länge zogen. Es klingelte an der Tür; er öffnete.

«Komm rein», sagte er knapp.

Martina Krause hatte dem Seher wieder einmal einen selbst gebackenen Muffin mitgebracht, den sie auf seinem Couchtisch abstellte. Roland mochte den Muffindeckel, den Rest aber nicht. Den weichen Teigstumpf würde er wegwerfen.

Martina sah den Seher erwartungsvoll an und sagte: «Heiß heute, was?»

Er bejahte lustlos.

Sie fragte dies und das: Ob sie endlich einen Mann kennenlernen würde; ob sie im Lotto gewinnen würde; ob ihre Bauchschmerzen endlich enden würden. Sauron antwortete dreimal:

«Nein, nein, nein.»

Als die allwöchentliche Frage nach dem blöden Bus kam, sagte er jedoch: «Ja!»

Martina wurde leichenblass. Damit hatte sie nicht gerechnet, nicht heute.

«So eine Scheiße!», schrie sie und fing an zu flennen.

Sauron entschuldigte und übergab sich auf der Toilette.

Nachdem Martina endlich gegangen war, ließ Roland sich aufs Sofa fallen. Seine Gabe war ihm oft eine Last, die er tapfer ertrug. Über ihm hing die schöne Reichart und schaute mit wachen Augen in sein stickiges Wohnzimmer. Ständig musste er sich Gedanken über die Zukunft anderer Leute machen. Doch wer dachte zur Abwechslung mal an ihn – wer dachte an seine Zukunft? Sein Leben ging jedenfalls weiter. Aber Martina, seine treueste Klientin, brachte ihm keine Muffins mehr.

Diese Story erschien in kürzerer Form unter dem Titel «Sauron, der Seher» in der Literaturzeitschrift Hahnepeter. Zu finden in Ausgabe Nr. 8, Frühjahr 2024.