Short Story

Nicht jeder erbt ein Schloss

Beim Notar erfährt die Familie, dass Gustav G. etwas Großes besaß, was niemand wusste. Nun würde sein Sohn das Ding erben.

Das Büro des Notars war ein enges Kabuff. Überall türmten sich Papiere und Akten, lagen Snickers-Verpackungen herum. Menschen saßen dicht zusammen und standen eng nebeneinander. Meine Mutter war da und meine Schwester. Meine Großeltern waren da, weil sie ihren Sohn überlebt hatten. Ein paar Freunde meines Vaters waren da, manche von ihnen habe ich noch nie gesehen.

Der Notar drängelte sich an meinen Verwandten vorbei, Entschuldigungen murmelnd. Er ließ sich in seinen Sessel hinterm Schreibtisch fallen. Stöhnte und räusperte sich mehrmals.

«Guten Morgen allerseits – ich heiße Hugo von Waldhausen», sagte der Notar.

Hier und da erwiderten manche die Begrüßung, nuschelnd und verhalten.

«Möchte jemand etwas trinken?», fragte der Notar und schaute erwartungsvoll in die Runde.

«Haben Sie Orangensaft?», fragte meine Schwester.

Hugo zuckte mit den Schultern und rief seine Sekretärin herbei. Sie hieß Madeleine und erschrak, als sie das kleine Büro betrat, ein Büro gefüllt mit so vielen Leuten – ist das überhaupt legal? Was ist mit dem Brandschutz? Und gibt es überhaupt genügend Luft für alle? Nicht, dass hier alle ersticken! Die vielen Leichen: die müsste Madeleine dann wieder entsorgen, also zersägen oder in Säure auflösen, und dann irgendwie verschwinden lassen (und so fort). Hugo würde sich eilig in den Feierabend verabschieden, die Memme kann doch kein Blut sehen, und die Knochensäge kann er auch nicht bedienen mit seinen Pianistenhänden.

Madeleine seufzte hörbar. Also, Hugo, was ist?

«Bringen Sie den Herr- und Frauschaften bitte Orangensaft.»

«Mit Fruchtfleisch?», fragte die Sekretärin gewissenhaft.

«Mit Fruchtfleisch?», fragte Hugo meine Schwester, die kurz überlegte und dann sagte: «Sehr gern.»

«Mit Fruchtfleisch», bestätigte Hugo.

«Das hörte ich selbst», brummte Madeleine und verließ das Büro, ohne weitere Getränkewünsche abzuwarten. Sie schloss hinter sich die Tür, auch das Fenster war zu, stand nicht mal auf Kipp, weil Hugo von Waldhausen große Angst vor Durchzug hatte. Der würde den Tod bringen, meinte er.

Der Notar räusperte sich und sagte: «Sie sind heute hier, um das Erbe anzutreten, das Ihnen Herr Gustav Goldberger vermachte. Mein herzliches Beileid übrigens.»

Leise bedankte man sich. Hugo brauchte eine Weile, bis er seine Dokumente einigermaßen geordnet hatte. Es wurde merklich wärmer und durchaus stickig. Die Zeit verging so zäh, als hätte sie keine Lust mehr. Zwischendurch verteilte Madeleine einige Pappbecher und schenkte Orangensaft aus, «leider ohne Fruchtfleisch», wie sie zerknirscht anmerkte. Meine Schwester verzog angewidert das Gesicht.

Ich war wie in Trance, ganz weit weg, bis ich irgendwann an der Reihe war: «Herr Goldberger?»

«Das bin ich», bestätigte ich, obwohl die Hälfte der Leute auch so hieß. Herr Goldberger – das war in dem Moment nur ich.

Hugo von Waldhausen blätterte summend um. «Also», sagte er schließlich, «Ihnen hat Ihr ehemaliger Vater einen, jetzt muss ich einmal genau nachschauen, einen Augenblick … Sie erben einen Linienbus. Baujahr: 1997, Farbe: beige-weiß. Guter Gesamtzustand.»

«Ich erbe einen Linienbus?», fragte ich sicherheitshalber nach. Manchmal höre ich schlecht.

«Jawohl, Herr Goldberger, der Bus ist von Scania, die sind teuer, wenn ich das korrekt …»

Keine Ahnung, was ein Linienbus kostet, keine Ahnung, was ich damit anfangen sollte. Und keine Ahnung, wieso mein Vater überhaupt einen Linienbus besaß. Wo er den die ganze Zeit versteckt hatte. Was wusste ich schon über diesen Mann, der im zarten Alter von 25 Jahren überforderter Vater geworden war? Was hatte er von mir gewusst?

«Beeilung, bitte», rief meine Schwester plötzlich.

«Also, Herr Goldberger. Nehmen Sie das Erbe denn an?», fragte Hugo von Waldhausen. Er grinste. Und ich hätte einfach nein sagen sollen.