Schlicht aus der Hölle
Als Ort für die Weihnachtsfeier diente eine Mehrzweckhalle am Stadtrand. Eine Stimmung wie in Hitlers Bunker; allzu lange wollte ich nicht bleiben.
Mein Bürokollege Alfred Schlicht stand mit einer Bierflasche in der Hand am Rand und schaute sich um. Leider entdeckte er mich sofort und ich fühlte eine zerrende Verpflichtung, ihm wenigstens Hallo zu sagen.
Also ging ich zu ihm hin und sagte: «Hallo.»
Alfred erwiderte den Gruß nicht. Seit einigen Wochen war er mein Bürokollege – und das kam so: Anna-Lena Heumüller, die eigentlich mit mir im Zweierbüro saß, hatte mit sehr vielen Tesafilm-Streifen einen gelben Zettel auf ihren Bildschirm geklebt, und sich schriftlich in den «langen Liebesurlaub» verabschiedet. Sie wolle auf Bali heiraten, erklärte der Zettel in schwungvoller Schönschrift, und danach reisen. (Mir hatte sie verraten, dass es auch darum ging, ein Kind zu zeugen.) Ein zweiter Zettel klebte an ihrer Büropflanze und klärte über deren Wasserbedarf auf: «Dienstags und donnerstags eine halbe Kanne abgestandenes Wasser.»
Der erste Zettel kündigte Frau Heumüllers Wiederkehr für das «folgende Quartal» an.
Ich hatte mich auf die kommenden Monate gefreut, weil ich die Arbeitstage in einem Einzelbüro hätte vertrödeln können. Ich fantasierte mich unter den Schreibtisch, wo ich nach der Mittagspause einen heimlichen Mittagsschlaf machen würde. Doch mein kleiner Traum platzte jäh, als Alfred Schlicht die Abwesenheit von Frau Heumüller ausnutzte, um der Hölle zu entkommen – also dem Büro von der bösen Frau Weiler, das er sich teilen musste. Frau Weiler genoss den Ruf, unausstehlich zu sein. Ich selbst hatte nie mit ihr zu tun, aber es gab Gerüchte. Angeblich hatte sich der liebe Herr Pfeifer ihretwegen das Leben genommen, aber es gab noch andere Gründe, die seinen Suizid (so kurz vor der Rente) erklärten.
Es war Montag, mein erster Tag im Einzelbüro. Ich telefonierte gerade mit Japan, als Alfred plötzlich in meinem Büro stand. Dass sein Schatten auf mich fiel, war ungewöhnlich: Er hatte mich in all den Jahren nie besucht, wir hatten nie miteinander geredet, ich wusste fast nichts über ihn, nur dass er irgendeine psychische Störung hatte.
Meine Bürotür war geschlossen gewesen, um ungestört telefonieren zu können, aber Alfred war ohne anzuklopfen eingetreten, was ich schon irritierend genug fand.
Er schaute sich um, inspizierte Frau Heumüllers Schreibtisch, las ihre Zettel und warf einen Blick auf ihre Urlaubsfotos an der weißen Wand. Alfred verweilte einige Minuten in meinem Büro und führte ein diskretes Selbstgespräch. Ich dachte: Will der mich ärgern, während ich mit Japan telefoniere? Wenn ich in ein Büro eintrete und ein Telefonat bemerke, kehre ich sofort um. Das gebietet der Anstand.
Offenbar gefiel Alfred, was er sah. Eine halbe Stunde später sortierte er seine vergilbten Fachbücher in meinen Wandschrank und zog in mein Büro ein. Die Sachen der abwesenden Kollegin Heumüller stapelte er auf einem dritten Schreibtisch, auf dem eine Pflanze mit gelben Blättern stand. Die Urlaubsfotos zupfte er von der Wand und schmiss sie in den Mülleimer.
Dann saß er mir gegenüber, Alfred Schlicht, jeden Arbeitstag. Er nahm nie Urlaub und erkrankte nie. Er quälte mich mit kleinen sensorischen Grausamkeiten: Wie er schmatzte, wie er rasselnd atmete, wie er grundlos seufzte. Alle zwei Stunden verließ er für fünf Minuten das Büro und kehrte mit einem vollen Kaffeebecher zurück. Er trank schlürfend und stöhnend. Alfred war vor mir da und verließ nach mir das Büro.
Vielleicht schlief er unter dem Schreibtisch.
Meinen Bildschirm stellte ich auf einen Papierstapel, damit ich Alfred nicht ständig in die Augen schauen musste. Manchmal flüchtete ich mich in den Gedanken, einfach zu kündigen. Doch mir fehlte der Mut, deshalb blieb ich und ertrug, dass dieser Mann fünf Tage die Woche auf dem Platz von Frau Heumüller saß. Mordgedanken kamen und gingen.
Als er mich plötzlich fragte, ob ich auch zur Weihnachtsfeier kommen würde, sagte ich: «Vielleicht.»
Er meinte, er würde nicht kommen: «Keine Zeit.»
Es war eine Lüge, wie sich herausstellte. Ich war sauer, denn seine Ankündigung, nicht zur Weihnachtsfeier zu kommen, hatte mich schließlich dazu bewogen, doch hinzugehen. (Im Marketing hatte Frau Schöller angefangen, mit ihr wollte ich endlich einmal reden.)
An diesem Abend wich Alfred nicht mehr von meiner Seite. Als er angetrunken war, erzählte er mir von seinem Haus und dem fiesen Hausschwamm. Und er berichtete von dem Speiseröhrenkrebs, der seine Mutter dahinraffte. Sein Vater habe sich vor Jahren erhängt, erzählte er fröhlich, als «Thunderstruck» von AC/DC lief und die Kollegen besoffen auf die Tanzfläche stürmten. Herr Steiger kotzte schließlich in den Ausschnitt der bösen Frau Weiler, was ich sehr lustig fand. Sie streckte ihn mit einem Faustschlag zu Boden. Als Alfred endlich pinkeln ging, nahm ich ein Taxi und ließ mich nach Hause fahren.
Die Monate vergingen. Ich ertrug mein Schicksal, aber es war nicht leicht. Mir krampfte der Magen, wenn ich das Licht aus meinem Büro auf den Flur scheinen sah; ich wusste, er war da. Schlicht begrüßte mich nie und ich ließ es irgendwann auch sein und setzte mich einfach vor meinen Rechner, um schweigend meine Aufgaben zu erfüllen. Die Mordgedanken kamen und gingen, sie wurden heftiger.
Eines Tages waren Frau Heumüllers Sachen plötzlich verschwunden, und die vertrocknete Pflanze stand im Papierkorb.
Als ich mein Büro betrat, hielt Alfred Schlicht einen großen Zettel in der Hand, der auf seinem Bildschirm geklebt hatte.
Er lächelte und schaute mich an.
«Ich bleibe für immer», sagte er. Aber das stimmte nicht.